Das Leben ist kein Schönheitswettbewerb

Die Schönheitskönigin Sarah Rotblatt fährt an einer Tankstelle vor. Sie bremst und hält einen Moment inne. Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Ist das gerade wirklich passiert? Bei der Probe der Hüftschwungdrehung vorne in Jurynähe hatte ihr rechter Mundwinkel leicht gezuckt. Natürlich gab es einen riesigen Streit darüber, dass er nicht, und ob er überhaupt jemals und Sarahs Trainer und Vater hatte sie mit liebevoller Strenge als Fettarsch bezeichnet. Daraufhin hatte Sarah ihn einen Missbildner genannt und wutentbrannt das Studio verlassen. Auch, wenn sie sich nun ein bisschen schuldig für ihre Undankbarkeit ihrem Vater gegenüber fühlt, pocht ein gegenläufiges Gefühl stärker in ihren Adern: Sie hat einfach genug von dem ganzen Scheiß. Sie will nur noch nach Hause, sich abschminken, eine Gesichtsmaske auflegen und eimerweise Eiskrem in sich hineinstopfen. Kurzer Check im Rückspiegel: Sie sieht fantastisch aus - das ist die Hauptsache. Und ab in den Laden. Sarah hasst den Eiseinkauf. Als Schönheitskönigin wird einem direkt eine Essstörung unterstellt, wenn man sich ein paar Becherchen besorgt. Das bisschen kotzen. Manchmal fährt Sarah für jeden einzelnen an fünf verschiedene Tankstellen, um den argwöhnischen Blicken der Kassierer und Mitkunden zu entgehen. Aber dazu ist sie heute zu erschlagen. Also rein und das Prozedere über sich ergehen lassen.

 

Das Ladengeschäft ist proppenvoll - auch das noch. Eine Unterschrift hier, ein Lächeln in eine Kamera dort, eigentlich Routine. In dem Städtchen waren die Schönheitswettbewerbe immer von zentraler Bedeutung gewesen und schon Sarahs Großvater hatte mit ihrer Tante die ein oder andere Schärpe gemacht. Diese Tendenz hatte sich im Zuge von Internet und Facebook noch so sehr verstärkt, dass die Misserfolge der Jury inzwischen von größerem Interesse waren, als die der Politik. Der heimliche Bürgermeister war der Vater der Schönheitskönigin, seine Familie die Jury und die Jury das eigentliche Kabinett. Die Sache war tatsächlich etwas aus dem Ruder gelaufen, aber mit ihrem bezaubernden Lächeln hatte Sarah für gewöhnlich alles im Griff. Sie hatte dieses Lächeln, seit sie denken kann, geübt, schon auf dem Schoß ihres Großvaters und es war einfach umwerfend. Jeder erlag ihnen auf der Stelle, diesen unnatürlich weißen und geraden Zähnen, einer schöner, als der andere, außer Billy.

 

Billy Rotblatt hatte in jungen Jahren als Vertreter Karriere gemacht. Eigentlich war es nur ein Geschwür an seinem Fuß, aber die Zahlen überzeugten ihn schließlich und er machte die Kohle, die er konnte, in einem Städtchen wie diesem. Immerhin war er der Held dort, wo er war. Und das zahlte sich vielerseits aus. Er und seine Kumpel trieben sich gönnerhaft auf den Aftershowpartys der misslungenen Wahlen herum, um irgendwie Teil am öffentlichen Leben zu haben. Dabei waren sie alles andere als schön.

 

Schön waren die Schärpen eigentlich auch nicht, überlegt Sarah, als sie an die letzte Verleihung denkt und den Ladentürknauf betätigt. Jetzt einfach schnell und möglichst unentdeckt zur Eistruhe, bereits geplante Sorten herausgreifen, um dann doch kairophobisch bei der Auswahl zu verkacken: Entscheidungsunfähigkeit, ganz plötzlich. Oh nein. Ich liebe es, wenn ich die Auswahl habe - aber ich kann mich nicht entscheiden! Schon nähern sich die ersten Fans, Dirk und Martin Reineke aus der Unterstadt. Die müsste man eh verbrennen, schießt es Sarah durch den Kopf und da fällt ihr der Vater wieder ein. Ob er immer noch tobt? Wahrscheinlich scheißt er gerade den Turningcoach an, wobei der echt keine gute Arbeit geleistet hatte in den letzten Tagen. Denn Ronni Willems war etwas abgelenkt. Vier Kinder von fünf Frauen, das wächst einem mitunter doch über den Kopf und weit darüber hinaus wie darunter hinein. Sarah hatte dafür auch Verständnis, aber hier stand mehr auf dem Spiel, als ein paar Vaterschaftstests. Botox hin oder her. Das Schlimmste an den Menschen ist doch ihr Egoismus, denkt Sarah, da beugt Dirk sich schon über die Eisschublade: "Na, hungrig?" "Was geht dich das an, du Arschgesicht?" "Na na na..." "Halt's Maul Dirk, mit dir red' ich gar nicht." "Aber mit Eiskrem, oder was? Musste schon schön bescheuert sein. Gehste mit mir auf Ü30 am Samstag?" "Wenn ich da reinkäme, ganz bestimmt nicht mit dir, Dirk." "Und, haste Billy mit seiner neuen Alten gesehen?" Missbillygend entweidet Sarah diese in Gedanken. Organspendeausweise beantragen, denkt sie laut und haut Martin Reineke eine rein, einfach nur, weil er gerade so dasteht und so unfassbar scheiße dreinschaut. Er fällt direkt hintenüber ins Gurkenregal, holterdiepolter. So etwas hatte Sarah noch nie gemacht: einfach mal jemandem in die Fresse schlagen. Aua! "Und, wie geht's Billy? Stillt er seine anderen Kinder wenigstens anständig?" entfährt es ihr. Alimente waren natürlich ein recht wunder Punkt hierzulande. Sarah hatte selbst kürzlich zwei Männer von vier Kindern, und wusste, wem sie es gibt. Aber für ihre Fans... Na gut, ein kurzes Autogramm, nur Initialien oder so. "Habt ihr einen Stift?" "Voll auf die 12" meint Dirk noch und Sarah entschwindet flugs zur Kasse und ab ins Auto. Ein Blick aufs Handy verrät sechsundneunzig unbeantwortete Anrufe und Sarah wünscht sich einen Spamfilter fürs Telefon. Schnell mit der Beute in den Bungalow, abhängen. Mein Körper, mein Recht, meine Eiskrem – und: die Polizei: "Sie haben aber einen heißen Zahn drauf, junge Frau. Moment...sind Sie nicht...war ja bloß eine Missetat, nicht wahr (zwinker zwinker)?" "(kicher kicher) Äh, könnte ich ein Autogramm haben? Für meine Frau..." "Sie essen Eiskrem?" In solchen Situationen fragt sich Sarah manchmal, ob es nicht eigentlich zeitlich und nervlich unaufwändiger wäre, den normalen bürokratischen Weg zu gehen, als die "Bevorzugung", die einer Berühmtheit eben zuteil wird, zu genießen genötigt zu sein. "Sind Sie eigentlich mit Billy Rotblatt verheiratet?" "Er behauptet, er habe ein Kind von Ihnen. Stimmt das?" "Was halten Sie eigentlich von Missbrauch am Arbeitsplatz?"

 

Sarah hat ihr Leben lang lächeln müssen, aber es gibt Situationen, in denen es ihr immer noch schwer fällt. Sie denkt sehnsüchtig an ihr Sofa und da ist es schon wieder: dieses Zucken im rechten Mundwinkel. Sarah ist, als habe es auch einer der Wachtmeister bemerkt. Aufgrund der langen Tradition verstanden sich die Leute hier auf die ästhetischen Feinheiten und als amtierende Schönheitskönigin war man unter ständiger Beobachtung der absoluten Perfektion verpflichtet. Man tut das ja vor allem für die anderen und aus einer Mücke wird in dem Business schnell mal ein Elefant, wenn man nicht aufpasst im Prozellanladen. Hoffentlich schmilzt das Eis nicht, denkt Sarah, als einer der beiden Aufpasser von einer entfernten Verwandten erzählt, die auch schon mal amtiert hat, erloschener Glanz altehrwürdiger Tage, der nur noch im Rahmen von seltenen Erzählmomenten seine erinnernde Entsprechung findet. Wie viele dieser stereotypen Geschichten hatte sie sich schon anhören müssen, gleichsam der Lohn für ihre lächelnden Mühen. Der besonders neugierige Ordnungshüter erinnert Sarah irgendwie an Vincent Wagner, einen alten Freund und Analytiker, dem sie viel zu verdanken hatte. Das stimmt uns' Miss günstig und so nimmt sie brav den Bus nach Hause. Aber sie hasst öffentliche Verkehrsmittel, und dann auch noch das: Während Sarah sich an einem Bushenkel festhaltend ernsthaft um den Aggregatzustand der Cookies&Creams sorgt, steigt plötzlich Gunnar Storm mit ein in die kleine Blödelei und hängt sich direkt neben sie. Gunnar und Sarah waren die beiden Legastheniker in ihrer Grundschulklasse und sie verabscheute ihn für diese schäbige Zusammengruppierung - mal abgesehen von desselben Mundgeruch sowie seinen ausschweifenden Misshandlungen auf dem Schulweg. "Hey na! Was machst du denn hier?" "Na was schon, Bus fahren?" "Deine Tasche tropft." "Na und? Du auch. Geh doch buchstabieren, du hirnlose Arschgeburt!" Deswegen hasst Sarah Busse und dergleichen. Wer will denn schon auf so engem Raum alten Schulkameraden begegnen? Das wäre ja schon im Internet die Pest, denkt Sarah noch, als sie registriert, dass sie ihre Station verpasst hat. Schlechtes Karma, schießt es ihr durch den Kopf und der Vater fällt ihr wieder ein und dann, dass das Eis durch die Tüte bereits auf ihre Pradapumps plumpst. Jetzt noch damit auf dem Heimweg in Hundescheiße treten, und das Stylework ist perfekt. Essen kann sie das nicht mehr. Sarah steigt die nächste Station aus, schenkt Gunnar ein müdes, umwerfendes Lächeln und tritt in die Hundescheiße. Sie macht ein full-body Selfie von sich und dem Schuh, missfällt dabei hintenüber auf die Gleise, doch noch bevor ihr Kopf durch den Aufschlag auf dem Eisen zerschmettert, greift der Florist Florian Stengler seine schnelle Hand unter ihr stürzendes Haupt und rettet ihr, wenn überhaupt, das Leben. Danke, denkt Sarah, als ihr weiß vor Augen wird, und irgendwie leichter. Sie, die ewige Miss, versteht plötzlich etwas - in sich als Leere. Beim dauernden Parisurteil, das andere über sie fällten, hatte Sarah sich inmitten all der Leichen- und Liebesspiele vor allem selbst vermisst. Allein das stundenlange Schminken! denkt sie zuckenden rechten Mundwinkels und seitdem zählen die Stenglers Stunden und Monden nur noch nach der Blumenuhr. Denn eins hat Sarah gelernt - lernen müssen: dass auch die inneren Werte zählen, wenn es darauf ankommt.